Immer mehr Kinder infizieren sich derzeit deutschlandweit mit dem RSV, dem Respiratorischen Synzytial-Virus, einer Erkrankung der Atemwege. Auch im Norden steigen die Zahlen. In Hamburg und Schleswig-Holstein noch nicht so drastisch wie beispielsweise in Niedersachsen, wo Kinderkliniken bereits um freie Betten ringen und die kleinen Patientinnen und Patienten teilweise im Land verteilt werden müssen. Mediziner:innen gehen für die nächsten Wochen bis Weihnachten von einem anhaltenden Anstieg der Erkrankungswelle aus.
Was ist das RS-Virus und für wen kann es gefährlich sein?
Besonders für Säuglinge und Kleinkinder kann das Virus gefährlich sein. Es verursacht eine intensive Schleimbildung, geht oft mit starkem Fieber einher, erschwert das Atmen und Infizierte sind geplagt von einem starken Husten, der länger als vier Wochen anhalten kann und Keuchhusten-ähnlich klingt.
An RSV kann grundsätzlich jede und jeder erkranken. Bei Erwachsenen äußert sich die Infektion eher wie eine normale Erkältung oder eine leichte Grippe. Durch die engen Atemwege jüngerer Kinder, entwickeln diese jedoch schnell eine Bronchitis oder Lungenentzündung und können so schwerer erkranken. Häufig kommt es bei einer Infektion auch zu Sauerstoffmangel, weshalb regelmäßig inhaliert werden muss. Wer schon einmal versucht hat, mit einem Kleinkind zu inhalieren, der weiß, dass das kein Leichtes ist. Die meisten Kinder wehren sich mit aller Kraft gegen die Sauerstoffmasken und Inhalatoren, was die ganze Prozedur für Pflegepersonal, Eltern und Kinder oft sehr unangenehm macht.
Kinder mit Lungen-Vorerkrankungen oder Frühchen zählen laut RKI zur Risikogruppe beim RS-Virus.
Bei einem Kontakt mit Erkrankten unter normalen Bedingungen ist eine Ansteckung kaum zu vermeiden.
Niedersachsen und Bremen: Kliniken teilweise überlastet
Die Lage in den Kliniken und Krankenhäusern in Norddeutschland ist sehr unterschiedlich. So lässt sich in Niedersachsen ein so hoher Anstieg an Patientinnen und Patienten verzeichnen, dass viele Kliniken an ihre Grenzen stoßen. „Wir können bestätigen, dass wir derzeit mit RSV aber auch Influenza stark in Anspruch genommen werden“, erklärte der Geschäftsführer des Christlichen Kinderhospitals Osnabrück, Michael Richter, gegenüber SAT.1 REGIONAL. Außerdem erhielt das Kinderkrankenhaus am Dienstag bereits drei Anfragen von anderen Kinderkliniken des Landes, ob sie Patientinnen und Patienten übernehmen könnten. „Aktuell werden im Christlichen Kinderhospital 24 Kinder mit RSV behandelt, drei davon sind so schwer krank, dass wir sie auf der Intensivstation behandeln müssen. Zwei Kinder müssen derzeit beatmet werden. Die Kinder sind wenige Wochen bis 3 Jahren alt.“ Ähnlich ist die Situation in Bremen.
Das Christliche Kinderhospital Osnabrück hat die Situation derweil noch gut im Griff, „aber es ist schon sehr belastend – insbesondere für die Pflegekräfte“, sagt Michael Richter. „Damit wir aber ausreichend Kapazitäten stellen können, haben wir alle verschiebbaren Termine bereits in der letzten Woche abgesagt. Dies trifft HNO-Operationen, die Kinderorthopädie und die Kinderchirurgie.“ Wie schon bei Corona müssen also geplante, aufschiebbare Eingriffe verlegt und Termine abgesagt werden. Ein allgemeines Problem des Gesundheitssystems. Vom Klinikum Bremen-Mitte heißt es dazu: „Die Lage in den Kinderkliniken ist ernst. Nicht, weil es so außergewöhnlich viele RSV-Fälle gibt, sondern weil, wie überall im Bundesgebiet, Fachkräfte in der Pflege fehlen und aktuell auch viele Erkrankungen des Personals hinzukommen.“
Schleswig-Holstein: Lage noch vergleichsweise entspannt
In Schleswig-Holstein ist die Lage aufs Land gesehen vergleichsweise entspannt. Auffällig ist jedoch auch hier, dass die RSV-Saison deutlich früher begonnen hat, als in den Vor-Corona-Jahren und dass die Fälle an nahezu allen Kliniken im Land weiter steigen, obwohl aufgrund des frühen Beginns der Infektionswelle langsam ein Abschwächen erkennbar sein sollte. Dies könnte auch mit dem Fallen der Maskenpflicht hin zum Beginn der Erkältungssaison zusammenhängen.
Am Friedrich-Ebert-Krankenhaus in Neumünster werden derzeit fünf mit dem RS-Virus infizierte Kinder behandelt, eines davon befindet sich auf der Kinderintensivstation und wird beatmet. „Wir haben in diesem Jahr deutlich mehr infizierte Kinder und deutlich früher. Wir sind jetzt erst am Anfang der RSV-Saison und haben im Vergleich zum Vorjahr, in der gleichen Woche im November, mehr als doppelt so viele infizierte Kinder bei uns stationär“, erklärt Maren von Dollen, Sprecherin des Friedrich-Ebert-Krankenhauses.
Das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) verzeichnet laut Pressesprecherin Angelika Kappen derzeit noch nicht so viele Fälle von RSV wie im Vergleich zum Vorjahr. Es zeichnet sich aber auch dort eine steigende Tendenz ab. „Auffällig ist, dass die RSV-Saison früh begonnen [hat]“, erklärt sie und macht weiter auf eine eventuell bevorstehende knappe Bettensituation aufmerksam, „Schwierig ist, dass wir alle Kinder mit Virusinfekten aufwendig isolieren müssen. Das erklärt, warum es zu wenige Betten gibt. Das Platzangebot ist drastisch eingeschränkt. Wir konzentrieren uns auf Notfälle oder schwer Erkrankte.“
Hamburg: Krankenhäuser rechnen mit weiterem Anstieg
Auch am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) verzeichnen die Ärztinnen und Ärzte eine erhöhte Anzahl von kleinen Kindern mit Atemwegsinfektionen, vor allem mit dem RS-Virus. „In den vergangenen Wochen wurden vermehrt Kinder mit dem RS-Virus oder anderen viralen Infektionen der oberen Luftwege im Kinder-UKE stationär behandelt. Die Intensität der Erkrankungswelle, die andere Bundesländer aktuell berichten, sehen wir im Kinder-UKE bisher noch nicht. Die Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit dem RS-Virus im Kinder-UKE ist derzeit sichergestellt“, sagt der stellvertretende Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin Prof. Dr. Jun Oh. Er rät Eltern, bei Anzeichen einer Infektion der oberen Luftwege frühzeitig eine Kinderärztin beziehungsweise einen Kinderarzt aufzusuchen, um eine RSV-Infektion abklären zu lassen: „Vor allem Familien mit Neugeborenen und Kleinkindern sollten die bisher geltenden Hygienemaßnahmen weiter einhalten, um schwere Verläufe zu vermeiden.“
Am Altonaer Kinderkrankenhaus sieht die Situation ähnlich aus. Auch hier kann eine Versorgung gewährleistet werden, doch die Stationen füllen sich und viele Kinder sind besonders schwer am RSV erkrankt. Täglich kommen neue hinzu: „Pro Tag kommen etwa 3-4 Kinder mit RSV ins AKK. In der Regel liegen diese auf der Normalstation, schwere Fälle kommen auf die Intensivstation“, erklärt Prof. Dr. Philippe Stock, ärztlicher Direktor und leitender Arzt der Pädiatrie, Kinderpneumologie und Allergologie. „Seit Beginn der RSV-Zeit wurden schon über 100 Kinder bei uns vorstellig. Über 90 mussten stationär aufgenommen werden. Im Wesentlichen behandeln wir Kinder, die im ersten Lebensjahr erkrankt sind, vereinzelt müssen aber auch ältere Kinder, etwa bis zum 3. Lebensjahr, stationär behandelt werden“, sagt der Mediziner. Etwa zehn Prozent dieser Kinder kommen auf die Intensivstation und müssen dort in den meisten Fällen beatmet werden.
Zusammenhang von RSV-Welle und Corona-Pandemie-Maßnahmen
Einen Zusammenhang mit den Corona-Pandemie-Maßnahmen, wie Kita-Schließungen, Homeschooling oder das Masketragen, in Bezug auf die erhöhte Anzahl der Infektionen vermuten viele Ärztinnen und Ärzte. So auch Dr. Robin Kobbe vom UKE in Hamburg. Er spricht von einer „immunologischen Lücke“, die durch die Vorsichtsmaßnahmen in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie entstanden sei. Das Immunsystem wurde so in den vergangenen Jahren wenig trainiert, hat wenige leichte oder a-symptomatische Atemwegserkrankungen durchgemacht. Die Maßnahmen hätten eben nicht nur Corona, sondern auch den Kontakt mit anderen Infektionskrankheiten verhindert. Dadurch haben viele jetzt Zwei- oder Dreijährige ihre Erstinfektion nun erst relativ spät und zeitgleich mit den jüngeren Kindern.
Außerdem können wir eine Infektion mit dem RS-Virus mehrfach durchmachen, der Krankheitsverlauf schwächt bei einer wiederholten Infektion aber ab, da sich die Grundreaktionssituation verbessert. Das zwei- oder dreijährige Kind, das zum zweiten Mal mit dem RS-Virus infiziert ist, wird weniger schwer krank. Da diese Generation von Kindern, bedingt durch die Schutzmaßnahmen, nun aber erst ihre Erstinfektion erleben, erkranken auch sie schwerer als gewöhnlich.
Es ist also nicht der Erreger, der gefährlicher geworden ist, nur der Erstkontakt hat sich verschoben.
Schutz durch Impfung?
Wirklich schützen kann man sich – oder können Eltern ihre Kinder – nicht, da es noch keinen Impfstoff gegen das RS-Virus gibt. Die Infektion gehört zur Entwicklung des Immunsystems dazu. Für Risikopatientinnen und -patienten empfiehlt das RKI die Verabreichung eines monoklonalen Antikörpers. Dieser dient der passiven Immunisierung und wird jeweils während der RSV-Saison verabreicht. Er schützt allerdings nicht vor der Infektion, sondern nur vor einem schweren Verlauf.
An einer Impfung wird derweil geforscht. Das Pharmaunternehmen Pfizer hat dazu am 1. November 2022 eine Pressemitteilung herausgegeben, in der es hieß, man befände sich auf einem guten Weg hin zur Immunisierung. Ein Impfstoff wurde getestet, dessen Wirksamkeit gegen schwere Infektionen bei Neugeborenen in den ersten 90 Lebenstagen 81,8 Prozent und in den ersten sechs Monaten 69,4 Prozent betrage.
Stand: 29./30.11.2022
Quellen: lungeninformationsdienst.de, UKE, Altonaer Kinderkrankenhaus, UKSH, Friedrich-Ebert-Krankenhaus Neumünster, Robert Koch-Institut, Pfizer Pressemitteilung vom 1. November: Pfizer Announces Positive Top-Line Data of Phase 3 Global Maternal Immunization Trial for its Bivalent Respiratory Syncytial Virus (RSV) Vaccine Candidate
Andrea Marie Eisele