In Deutschland leiden rund 50.000 Kinder und Jugendliche an Krankheiten, die ihr Leben so sehr verkürzen, dass sie noch in jungen Jahren versterben werden, so die Zahlen des Malteser Hilfswerkes. Hinter ihnen steht immer eine Familie, die sich ab dem Moment der Diagnose mit dem Schicksal auseinandersetzen muss, vom eigenen Kind, dem Geschwisterkind oder dem Enkel Abschied nehmen zu müssen. Um diese Familien größtmöglich zu unterstützen, hat im Mai 2003 im Hamburger Westen das Kinder-Hospiz Sternenbrücke als Pilotprojekt für Norddeutschland eröffnet. Vier Mitarbeiterinnen geben Einblicke in ihre berührende Arbeit.
In der Sternenbrücke verbringen schwer kranke Kinder nicht nur die letzten Tage ihres Lebens, sondern sind meist über mehrere Wochen im Jahr verteilt, oftmals über Jahre hinweg – an bis zu 28 Tagen im Jahr, immer wieder Gast im Kinder-Hospiz. Ganz bewusst wird hier, als Zeichen der Wertschätzung, von Gästen und nicht von Patient:innen gesprochen.
Ein paar Momente der Entlastung für die Familie
Viele stellen sich vor, in einem Kinder-Hospiz würde an nahezu jedem Tag ein Kind versterben, doch dem ist keineswegs so und darin liegt auch der Unterschied zu Hospizen für Erwachsene, die ausschließlich zur Begleitung am Lebensende aufnehmen. Die sogenannte „Entlastungspflege“ mache 80 Prozent der Arbeit der Sternenbrücke aus. Vorrangig gehe es darum, die Eltern und Geschwister des erkrankten Kindes zu entlasten, ihnen eine Pause zu ermöglichen, sie durchatmen zu lassen und ihnen unbeschwerte Momente und Erinnerungen zu schenken. So können sie Kraft für die nächsten intensiven Monate tanken, sich für einen winzig kleinen Moment zurücklehnen.
„Man denkt oft an die Eltern und die erkrankten Kinder, aber nicht an die Geschwister“
Das Motto der Sternenbrücke steht für sich: „Wir können dem Leben nicht mehr Tage geben, aber den Tagen mehr Leben.“ Ein Team von rund 100 Haupt- und Ehrenamtlichen ermöglicht den betroffenen Kindern und ihren Familien eine Auszeit, die sich für viele wie Urlaub anfühlt: „Besonders schöne Momente sind, wenn die Geschwisterkinder, die wir über Jahre begleiten, uns sagen, was für eine gute und wohltuende Zeit es hier bei uns war, wie ein Urlaub mit vertrauten Menschen, die ihnen geholfen haben, trotz allem heute im Leben zu stehen“, erzählt Bianca Kappelmann. Sie ist seit neun Jahren in der Sternenbrücke und dort Leiterin des Pädagogischen Teams. Geschwister der erkrankten Kinder, für die im Alltag oft nicht genügend Kraft und Zeit bleibt, stehen bei ihr im Vordergrund.
Die Pädagog:innen schenken ihnen Zeit, eine intensive und individuelle Betreuung und damit auch ein Gefühl der Sichtbarkeit: „Hey, du bist da, wir wissen das und wir sehen dich! Die Geschwister sind eine Gruppe in diesem Familiensystem, die leicht untergeht“, so Kappelmann. Im Alltag müssen sie viel zurückstecken, viel Verantwortung übernehmen. „Wenn wir sie zum Lachen bringen können und einfach mal frei Kind sein lassen können, sind das unsere kleinen Erfolge hier“, sagt die 44-Jährige.
Das pädagogische Team begleitet Geschwisterkinder zwischen drei und 18 Jahren. Neben dem Kreativraum, in dem gebastelt und gemalt werden kann, steht den Kindern und Jugendlichen außerdem das Dachgeschoss als Rückzugsort zur Verfügung, wo Billiard oder Gesellschaftsspiele gespielt werden können und auch die Blockhütte. „Sie ist ein ganz besonderer Ort“, weiß Bianca Kappelmann, „Hier können sich die Geschwister während des Regenbogenclubs mit Gleichgesinnten austauschen. Abseits des stationären Bereichs, also weg vom Pflegealltag, geht es da um Themen wie Trauer aber genau so um Dinge, die einen stärken können.“
„Unsere Gäste werden nicht wieder gesund“
Stärken kann auch die Physiotherapie. Nicht nur die erkrankten Kinder, auch Geschwister oder Eltern werden gelegentlich behandelt. Allen soll es hier gutgehen, denn nur so funktioniert das Konzept der Entlastungspflege.
Rita Gansen arbeitet seit 20 Jahren als Physiotherapeutin in der Sternenbrücke. „Unsere Gäste werden nicht wieder gesund, der rehabilitative Ansatz ist hier also nicht gegeben“, das zu akzeptieren, war eine der großen Herausforderungen für sie. Ziel der drei festangestellten Physiotherapeut:innen ist das größtmögliche körperliche und seelische Wohlbefinden der Gäste, beispielsweise durch Förderung der Vitalfunktionen, wie der Atmung oder der Unterstützung bei Beweglichkeit, die den Gästen ihre Selbstständigkeit und damit eine eigenständige Teilhabe am Alltag ermöglicht. „Es ist ein unglaublich schönes Gefühl, wenn ein Kind, was Atemprobleme hat plötzlich tief durchatmet“, erzählt Gansen. Dadurch habe man aber auch nicht das eine Konzept, die Arbeit sei jeden Tag anders und sehr vernetzt mit den Pflegefachkräften oder anderen Therapeut:innen, erklärt Gansen.
Wichtiger Bestandteil der Physiotherapie ist auch das Spiel: Gäste lernen, sich selbst und andere zu spüren und mit allen Sinnen wahrzunehmen. Kinder und Jugendliche, die sich nicht mehr so gut artikulieren können, erreiche man häufig über Klänge und Töne. Ein bis zwei Mal die Woche wird deshalb eine Musiktherapie, ergänzend zur Physiotherapie, angeboten. Im Musiktherapie-Raum können Gäste leicht zu spielende Instrumente nutzen und entspannende Erholungsmomente erleben. Im Klanggarten im Außenbereich der Sternenbrücke wird dieses Konzept fortgeführt.
Zwischen Anträgen und Abschied
Rita Gansen kümmert sich gemeinsam mit ihren Kolleg:innen auch darum, dass Hilfsmittel von Krankenkassen genehmigt werden, die den Erkrankten und ihren Angehörigen das Leben erleichtern. Jede erteilte Genehmigung ist für die 58-Jährige ein Grund zur Freude, aber auch die andere Seite gehört zum festen Bestandteil ihrer Arbeitswelt: „In der Finalphase [wenn Kinder sterben] gilt es, manchmal einfach Dinge auszuhalten. Das ist eine richtig große Herausforderung, es ist schrecklich und wird auch mit der Zeit nicht weniger“, sagt die Therapeutin. Doch sie lacht dabei und vermittelt ein gutes Gefühl, ein Gefühl der Dankbarkeit. Rita Gansen weiß, dass die Gäste der Sternenbrücke eine schöne Zeit verleben und dass sie einen wichtigen Teil dazu beiträgt.
„Ich weine dann auch, aber ich nehme es meist nicht mit nach Hause“
„Viele Familien kennt man wirklich lange, über Jahre hinweg habe ich dann eine Beziehung aufgebaut, von daher betrifft mich das natürlich. Ich weine dann auch, aber ich nehme es meist nicht mit nach Hause. Das ist der Unterschied zwischen Mitleid und Mitgefühl. Ich habe ein unendliches Mitgefühl, aber ich leide nicht lange mit.“
„Wir schlagen die Brücke zwischen Einrichtungen und Familien“
Lisa Petersohn hat vor 13 Jahren als Pflegefachkraft im Kinder-Hospiz Sternenbrücke in Hamburg-Rissen angefangen, inzwischen ist sie auch Brückenschwester und Trauerbegleiterin. Sie erzählt, dass die Trauerarbeit nicht erst in der Endphase eines Lebens, sondern im besten Fall bereits mit der Diagnose beginnt, die plötzlich eine ganze Familie aus ihren gewohnten Bahnen reißt. Menschen in diesem Familiensystem verändern sich, jede:r hat und braucht einen ganz individuellen Umgang mit der erschütternden Botschaft, was das Zusammenleben belasten kann. In der Trauerbegleitung versuchen Lisa Petersohn und ihre Kolleg:innen diese Menschen abzuholen.
Einher geht das mit der Arbeit als Brückenschwester, denn als solche schlägt sie die Brücke zwischen der betroffenen Familie und anderen Einrichtungen, wie Kliniken, Pflegeheimen oder dem Kinder-Hospiz. Lisa Petersohn klärt auf, bietet Möglichkeiten, begleitet: „Oftmals denken Eltern bei dem Wort ‚Kinder-Hospiz‘, so weit sind sie noch nicht, weil Hospiz ja immer gleich in Verbindung mit Tod gebracht wird. Wir unterstützen sie dabei, diese Hemmschwelle zu überwinden, die Angst zu verlieren und zu verstehen, dass es ein Ort ist, wo sie ganzheitlich aufgefangen werden und Unterstützung erfahren.“
„Familien liegen zu zweit oder dritt im Bett und haben ihr Kind im Arm. Warten.“
In der finalen Lebensphase des Kindes oder des jungen Erwachsenen ist der Aufenthalt in der Sternenbrücke für die Familie zeitlich unbegrenzt. „Dafür wird immer eines der zwölf Zimmern, die wir im Haus haben, freigehalten“, erklärt Sonja Albers. Sie hat die Geschäftsleitung des Palliative-Care-Bereichs und ist Leiterin des Pflegedienstes. Der Fachkräftemangel ist auch für die Sternenbrücke ein Problem, meistens sei es personell nicht möglich, alle Zimmer zu besetzen. „Im Schnitt haben wir acht bis zehn Familien hier. Unsere Warteliste ist sehr, sehr lang und wir können nicht alle bedienen. Das geht anderen Kinder-Hospizen ähnlich. Letztlich sind wir gezwungen, je nach Diagnose und danach, wie viel Zeit dem Kind noch bleibt, zu priorisieren.“
Wenn die Mitarbeitenden merken, dass ein Gast die Kraft zum Leben verliert, kümmert sich eine Pflegefachkraft ausschließlich um dieses Kind oder den jungen Erwachsenen und seine Angehörigen. Ein weiteres Bett wird direkt an das Bett des Gastes gestellt, so dass Familienmitglieder die Möglichkeit haben, nah bei dem oder der Sterbenden zu sein. „Viele Familien liegen so zu zweit oder dritt im Bett und haben ihr Kind im Arm. Wechseln sich immer wieder ab. Warten“, heißt es auf der Homepage des Kinder-Hospizes. Noch einmal werden Lieblingsgeschichten vorgelesen oder die Lieblingslieder des Kindes gespielt. „Die Sterbephase kann mehrere Tage in Anspruch nehmen“, erklärt Lisa Petersohn. „Das ist eine sehr intensive Zeit für die ganze Familie, aber auch für uns. Viele Eltern nehmen sich in dieser Phase auch Zeit im Raum der Stille, ein Raum, um zur Ruhe zu kommen, vielleicht eine Kerze anzuzünden, Gedanken zu ordnen.“
Zeit, um Abschied zu nehmen
Verstirbt ein Gast, dann kann er oder sie im Abschiedsraum aufgebahrt werden. Das „Sternenbett“ in diesem Raum verfügt über eine Kühlfunktion, die es ermöglicht, Verstorbene bis zu fünf Tage lang vor Ort zu behalten, damit Angehörige Zeit haben, sich zu verabschieden. „Fünf Tage klingt wahnsinnig lang, aber manchmal braucht es einfach diese Zeit. Oft kommt das Verständnis für das, was da passiert ist, erst nach zwei oder drei Tagen, dann braucht man die Möglichkeit, nochmal nachzuschauen, nochmal anzufassen, sonst begreifen viele Menschen das gar nicht“, erklärt Lisa Petersohn. Außerdem stehen im Abschiedsraum Erinnerungsalben zur Verfügung, die Eltern und Geschwister für das verstorbene Kind gestalten können, in denen sie Gedanken notieren, Briefe an die oder den Verstorbenen schreiben, Bilder malen.
Erinnerungen an die Sternenkinder
Die Sternenkinder hinterlassen ihre Spuren im Hospiz, nicht zuletzt im Eingangsbereich, wo eine Kerze in einer Laterne entzündet wird, wenn ein Kind verstorben ist – auch, um Bescher:innen auf die sensible Situation vorzubereiten. Namen auf Sternen zieren die Wände des Hospizes. Es ist vor allem der Garten der Erinnerung, der Familien einen Ort bietet, an den sie immer wieder zurückkehren können. Für jedes im Hospiz verstorbene Sternenkind ist dort ein Lämpchen mit dem jeweiligen Namen aufgestellt und auch die Erkrankten, die Gast in der Sternenbrücke waren, dort aber nicht verstorben sind, haben ihren Platz auf einem Gedenkstein im Garten der Erinnerung.
„Ich glaube, dass wir alle ein Stück weit speziell sind, die wir hier arbeiten“
Ohne Lisa Petersohn, Rita Gansen, Bianca Kappelmann und all die anderen Mitarbeitenden des Hospizes, wäre die Sternenbrücke nicht ein so wertvoller Ort für Familien mit lebensverkürzt erkrankten Kindern. „Ich glaube, dass wir alle ein Stück weit speziell sind, die wir hier arbeiten. Es ist wichtig, viel Empathie mitzubringen, will man in einem Kinder-Hospiz arbeiten, weil man einfach viel Mitgefühl und Einfühlungsvermögen haben muss. Außerdem muss man sehr achtsam mit sich selbst sein. Selbstreflektiert sein. Gut auf sich aufpassen können. Rituale haben, die einem helfen, Dinge nicht mit nach Hause zu nehmen. Der Job ist eine Herzensangelegenheit. Für viele ist es kein Beruf, sondern Berufung“, sagt Sonja Albers.
Unterstützt wird das Team von 60 Ehrenamtlichen in den unterschiedlichsten Bereichen. „Einige helfen in der Pflege, andere beispielsweise an Infoständen, weil sie gemerkt haben, dass ihnen der direkte Kontakt mit den Gästen zu nah ist“, erklärt Albers. Finanziert wird der Großteil des Betriebes durch Spenden. Die Krankenkassen übernehmen gerade einmal 60 Prozent der Unterbringungs- und Pflegekosten des erkrankten Kindes. „Nicht abgedeckt sind also die Kosten für Ärzt:innen und Seelsorger:innen, für die Arbeit von Bianca Kappelmann und ihrem Team oder die Physiotherapie von Rita Gansen“, so Albers. Auch die Aufenthaltskosten der Eltern und Geschwisterkinder werden nicht übernommen. Müssten Eltern für diese Kosten selbst aufkommen, würde zwangsläufig ein soziales Ungleichgewicht entstehen. Um die Hospiz-Arbeit, so wie sie in der Sternenbrücke tagtäglich gelebt wird, zu gewährleisten, sind solche Einrichtungen also unweigerlich auf Spenden angewiesen.
Andrea Marie Eisele (SAT.1 REGIONAL)