„Ich bin so stolz, wirklich so stolz auf mich, dass ich Leopold* niemals geschüttelt habe.“, sagt der Vater des anderthalbjährigen Jungen, während der Kleine auf dem Spielplatz friedlich seine Sandburg baut. Der Vater hat das erste Lebensjahr seines Sohnes in Elternzeit verbracht.
Für viele mag es absonderlich klingen, dass jemand glücklich darüber ist, sein Kind nicht geschüttelt zu haben. Ist es doch nur ganz natürlich und selbstverständlich, ein Baby nicht zu schütteln. Dennoch steckt in dieser Aussage auch ganz viel Mut – Mut zur Ehrlichkeit. Sich selbst und anderen gegenüber. Denn sicherlich gibt es Mütter und Väter da draußen, die diese Aussage nachvollziehen können. Oder zumindest ein ganz kleines bisschen.
Aller Anfang ist schwer
Gerade die erste Zeit mit einem Baby kann sehr anstrengend und eine enorme Herausforderung sein. Einige Eltern fühlen sich allein gelassen. In solchen Situationen kann die Überforderung siegen. Den Bruchteil einer Sekunde hat mensch sich nicht im Griff, will, dass das schreiende Baby endlich Ruhe gibt und schüttelt es.
Tabu-Thema Überforderung durch Kind
Hinzu kommt, dass das Thema Überforderung durch ein Kind auch heute noch ein Tabu in unserer Gesellschaft darstellt. Kinder zur Welt bringen, sich um ein Baby kümmern, es später erziehen – das liegt schließlich in unserer Natur. Es muss uns nicht beigebracht werden, wir können es, seit wir existieren, denn genau das ist die Grundlage unserer Existenz. Und doch ist es eben manchmal nicht so einfach, läuft nicht alles „wie von selbst“. Wir müssen als Gesellschaft lernen, diese Themen anzusprechen, sie offen zu kommunizieren – ohne Vorurteile, ohne Wertung.
Neue Präventionskampagne gestartet
Und genau hier setzt die Kampagne #schüttelntötet an. Und zwar durch Aufklärung. Nicht mit dem erhobenen Zeigefinger, sondern verständnisvoll, ehrlich und unterstützend. Viele Menschen haben schon mal von einem Schütteltrauma gehört und für die meisten ist es nur logisch, dass ein Baby oder Kleinkind nicht geschüttelt werden darf. Dennoch wissen viele noch immer nicht um die Konsequenzen. Das soll sich jetzt ändern.
Vor vier Jahren ist die Kampagne #schüttelntötet gestartet. Am Donnerstag geht sie mit ordentlich Rückenwind in die zweite Runde. Das Ziel dieser bundesweiten Plakat-, Online- und Kinokampagne war und ist, tödliche Schütteltraumata bei Säuglingen und Kleinkindern zu verhindern. In Zusammenarbeit mit der Stadt Hamburg, der Rechtsmedizin und der Kinderklinik des UKE sowie dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte geht die API Kinder- und Jugend-Stiftung nun einen Schritt weiter und bringt die Aufklärung direkt zu den Eltern.
Aufklärung bei U3 Untersuchung beim Kinderarzt
Zukünftig werden Eltern während der U3-Vorsorgeuntersuchung ihres Babys über die Risiken auch leichten Schüttelns aufgeklärt.
„Prävention kann nur erfolgreich sein, wenn sie rechtzeitig greift […]. Das übliche Alter von Säuglingen beim Erleiden eines Schütteltraumas liegt zwischen dem zweiten und sechsten Lebensmonat“, erklärt Prof. Dr. Benjamin Ondruschka, Leiter des rechtsmedizinischen Instituts am UKE in Hamburg. Die U3-Vorsorgeuntersuchung ist die Untersuchung, die diesem Zeitraum am nächsten ist. Sie findet zwischen der dritten und achten Lebenswoche eines Säuglings statt. Zukünftig werde auch das Thema Schütteltrauma Inhalt der Untersuchung sein: „Mit der jetzt startenden Aufklärungskampagne geben wir allen Hamburger Eltern wesentliche Merkmale des Schütteltraumas und Vermeidungsstrategien in schweren Stresssituationen an die Hand. Eltern werden mit einem Flyer in Verbindung mit einem Aufklärungsgespräch im Rahmen der U3-Untersuchung für das Thema sensibilisiert, ein Sticker im Untersuchungsheft wird an das Gespräch erinnern“, so Ondruschka.
Dr. Dirk Bange, Leiter der Abteilung Familie und Kindertagesbetreuung von der Hamburger Sozialbehörde ergänzt: „Wenn es uns gelingt, ein Problembewusstsein zu schaffen, leisten wir damit einen wichtigen Beitrag zum Kinderschutz.“
Umfrage: Ausmaße sind noch zu oft nicht bewusst
Vor dem neuerlichen Kampagnenstart erfolgte eine Umfrage in sieben Kinderarztpraxen, die die Notwendigkeit und den Wunsch nach mehr Aufklärung im Umgang mit exzessivem Babygeschrei und dem Schütteltrauma prüfen sollte. Dabei kam heraus, dass 6 Prozent der 245 an der Studie teilnehmenden Eltern das „Schütteln des Babys“ als eine probate Möglichkeit sahen, ein Kind bei exzessivem Schreien zu beruhigen. Insbesondere an solche Eltern richtet sich die Kampagne, da sie sich scheinbar in keiner Weise über die Ausmaße ihres Handelns bewusst sind.
Was passiert eigentlich, wenn ich ein Baby schüttle?
20 Prozent aller geschüttelten Babys sterben, 66 Prozent tragen bleibende Schäden und Behinderungen davon. In Deutschland sterben jährlich rund 200 Kinder an den Folgen eines Schütteltraumas.
Das Vor- und Zurückwerfen des Kopfes kann einerseits zum Genickbruch führen – eine Konsequenz, wenn man Gewalt auf eine kleine Wirbelsäule ausübt. Andererseits entstehen vermeintlich unsichtbare Schäden im Gehirn. Oftmals irreparable Hirnblutungen, die häufig zum Tode des Kindes führen: das Schütteltrauma. „Ein Säugling hat aufgrund seiner noch schwachen Nackenmuskulatur kaum Kontrolle über seinen Kopf – er fliegt ungebremst hin und her“, erklären die Rechtsmediziner:innen des UKE. Erschwerend komme hinzu, dass der Kopf eines Babys im Vergleich zum Körper überproportional groß und schwer ist. Das kleine Gehirn fliegt in der großen Knochenschale hin und her, es wird angeschlagen und gestaucht.
„Außerdem ist bei Babys die sogenannte Markscheide, die die Nerven schützend umhüllt, noch nicht vollständig ausgebildet. Das Gewebe in ihrem Gehirn ist dadurch viel weicher und verletzbarer als bei Erwachsenen“, erklärt Prof. Dr. Dragana Seifert, Oberärztin für Rechtsmedizin am UKE. Es kommt zum Einreißen von Blutgefäßen, zu Hirnblutungen und zahlreichen Verletzungen an Nervenzellen, was wiederum zum Absterben von Hirngewebe führt. Die Schädigungen, die das kleine Hirn erleidet, sind oft irreparabel und führen, wenn nicht zum Tod, häufig zu lebenslangen Behinderungen. Das heftige Schütteln eines Babys stellt im Übrigen eine Form der Kindesmisshandlung dar.
Eltern vor Gericht
„Dem 33-jährigen Angeklagten wird vorgeworfen, in Hildesheim am frühen Abend des 25.03.2021 seinem etwa zwölf Wochen alten Sohn durch heftiges Schütteln so starke Verletzungen zugefügt zu haben, dass der Säugling verstarb.“ (Prozessvorschau Landgericht Hildesheim für den 5.11.2021)
Immer wieder stehen Eltern wegen des Schüttelns von Babys vor Gericht. Was im Affekt passiert, begleitet die Familie ein Leben lang. Egal ob und wie ein Gericht urteilt, die meisten Eltern werden auch ohne Strafe ihres Lebens nicht mehr froh werden.
Fast 850 Mal im Jahr untersuchen Ärztinnen und Ärzte des Kinderkompetenzzentrums am Hamburger UKE Verdachtsfälle von Kindesmisshandlung. Bei einigen kann anhand der typischen Befunde ein Schütteltrauma-Syndrom nachgewiesen werden. Für die Rechtsmediziner:innen ist ein solcher Befund immer schockierend und alarmierend zugleich.
Kinder- und Jugendmediziner:innen sind sich einig: Hier hilft nur Aufklärung und das Aufzeigen alternativer Handlungsmuster.
Kampagne für den ganzen Norden
Die Kampagne soll nun nach und nach von Hamburg aus auf den ganzen Norden ausgeweitet werden. Informationen, wie man mit einem schreienden Baby umgehen kann oder was zu tun ist, sollte ein Baby doch geschüttelt worden sein, finden Eltern jetzt auch auf www.schüttelntoetet.de.
Andrea Marie Eisele
Quellen: API Kinder- und Jugend-Stiftung, www.schüttelntötet.de, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
*Name geändert
Weiterführende Infos
Schreiambulanzen-Suche: Postleitzahl eingeben und Adressen und Links zu Angeboten für Eltern von sogenannten Schreibabys erhalten: https://www.elternsein.info/