Fast jede siebte Frau in Deutschland hat schon einmal strafrechtlich relevante Formen von sexualisierter Gewalt erlebt. Eine Frage, die den Opfern im Nachhinein häufig gestellt wird, ist: „Was hattest du an?“ Sie impliziert, dass die Betroffenen möglicherweise eine (Teil)Schuld am Übergriff trifft, was selbstverständlich niemals der Fall ist. Eine Ausstellung in Kiel widmet sich ab Ende November genau dieser Thematik.
Haben Sie schon das Video „Männerwelten“ gesehen?
Das Thema Gewalt gegen Frauen bekam in der vergangenen Woche eine aktuelle Brisanz, als das Video „Männerwelten“ im Internet komplett viral ging. Bei YouTube hat es inzwischen über dreieinhalb Millionen Klicks, auf Instagram sind es sogar über 19 Millionen Aufrufe. Kurz zum Hintergrund: Die Moderatoren Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf haben bei unseren Kollegen von ProSieben wöchentlich die Chance, in der Show „Joko und Klaas gegen ProSieben“ 15 Sendeminuten in der Prime-Time zu gewinnen – zu ihrer freien Gestaltung. Vergangenen Mittwoch haben sie diese Viertelstunde nun genutzt, um die Zuschauer durch eine fiktive Kunstausstellung namens „Männerwelten“ zu führen, in der prominente und nichtprominente Frauen zu den Themen sexuelle Belästigung oder Vergewaltigung zu Wort kamen.
„Was hattest du an?“
Das schockierende Finale von „Männerwelten“ zeigt eine Sammlung von Kleidungsstücken, die in Kooperation mit der Frauenrechtsorganisation Terre de Femmes ausgestellt wurden. Kleidungsstücke, die denen ähneln, die Opfer zum Zeitpunkt eines sexuellen Übergriffs getragen haben. Jeans und T-Shirt, Arbeitsuniform, das Abiballkleid – ganz normale Klamotten eben. Mal abgesehen davon: In keinem Universum gäbe es auch nur irgendein Outfit, dass es rechtfertigt, Opfer eines Sexualdelikts zu werden. Und doch müssen sich Betroffene immer wieder die Frage gefallen lassen: „Was hattest du an?“
Emely Egerland und René Unger aus Kiel haben schon seit Anfang des Jahres geplant, eine Ausstellung ins Leben zu rufen, die sich genau mit dieser zentralen Frage beschäftigt. Die Veröffentlichung des „Männerwelten“-Videos und die dadurch generierte Aufmerksamkeit für das Thema spielt ihnen natürlich gut in die Karten. „Alles, was wir mit unserer Ausstellung erreichen wollen, das tun die gerade auch mit ihrem Beitrag“, freut sich Emely Egerland. „Es ist total wichtig, dass daraus Diskussionen entstehen, in welche Richtung auch immer, und die Leute darüber reden. Das kann uns nur helfen.“
Ausstellung mit Herzblut
Das Original der Ausstellung kommt aus Amerika. „What Were You Wearing?“ wurde erstmals 2014 in der University of Arkansas installiert. Dadurch inspiriert, hatte Emely Egerland den Wunsch, das Ganze auch nach Norddeutschland zu holen. „Bei mir ist es zudem noch so, dass ich selber betroffen bin und ich das aber jahrelang gar nicht thematisiert hab. So gut wie keiner wusste davon“, verrät die 26-Jährige. Sie sieht die Ausstellung auch als eine Art Therapieform: „Vielleicht wird da ja doch noch was Gutes draus, wenn ich da jetzt was aufbaue und somit nicht nur mir, sondern auch anderen helfen kann.“
Es ist traurig, doch sie finden sich auch hier: Diejenigen, die trotz aller Aufklärungsversuche immer noch der Meinung sind, es gäbe so etwas wie eine Opferschuld. Gibt es nicht. Kommentare wie „Als Frau sollte man einfach auf seine Klamotten achten!“ oder „Du kannst einem Hund keinen Knochen vorhalten und dich dann beschweren, wenn er sabbert“ stehen unter dem „Männerwelten“-Video von Joko und Klaas. „Das frustriert“, gibt die Marketing Managerin zu, „bestärkt aber gleichzeitig umso mehr den Gedanken, dass wir eine solche Ausstellung brauchen.“ Sie hält an ihrem Traum fest und hat eine klare Antwort auf alle uneinsichtigen Stimmen:
Das erwartet die Besucher in Kiel
Den Kern der Ausstellung werden die Kleidungsstücke bilden. Natürlich keine Original-Outfits, was Emely Egerland ganz wichtig ist: „Es geht nicht darum zu sagen, ‚Wow, da sehe ich vielleicht noch einen Blutfleck oder ähnliches‘. Wir wollen hier keine Sensationslust wecken.“ Sie und René Unger arbeiten mit den Initiatorinnen der Ursprungsinstallation aus den USA zusammen. Theoretisch dürfen sie Inhalte der Ausstellung übernehmen und mit eigenen Kleidungsstücken selbst interpretieren. Sie möchten es aber vor allem auch regional gestalten, machen sich gerade vorsichtig auf die Suche nach passenden Geschichten aus Norddeutschland. „Wir wollen keinen offensiven und plakativen Aufruf starten, dass man sich bei uns melden soll“, versucht Egerland, die richtigen Worte zu finden. Immer wieder eine Gratwanderung. „Durch die momentane Aufmerksamkeit des Themas kommen aber von sich aus auch schon Leute auf uns zu und schreiben uns Nachrichten.“
Das Projekt unterstützen
Da die beiden keinen Eintritt nehmen wollen, bleibt natürlich die Frage, wie sie das Ganze denn überhaupt finanzieren wollen. Die Miete für die Location entfällt glücklicherweise, da ihnen diese nach einer Bewerbungsphase von Kiel Marketing kostenfrei zur Verfügung gestellt wird. Doch für die Ausstellung selbst wird natürlich vieles benötigt: Baumaterialien, Aufsteller, Holzwände, Flyer, Plakate – all das kostet Geld. „Wir hoffen auf Sponsoren und Kooperationen und würden gerne mit lokalen Druckereien zusammenarbeiten. Durch die Corona-Krise trauen wir uns aber gerade gar nicht wirklich, da nachzufragen“, gesteht Egerland. Auf der Online-Spendenplattform Betterplace hat aber seit Kurzem jeder die Möglichkeit, die Kieler bei ihrem Projekt finanziell zu unterstützen.
Danach auch in anderen Städten?
„Es ist vielleicht groß gedacht“, lacht die 26-Jährige, „aber wir wollen es nicht ausschließen, dass wir mit der Ausstellung auch in andere Städte kommen.“ Erste Nachfragen aus Dresden gebe es schon. In Einkaufszentren könne man die Installation natürlich nicht aufbauen, ein solch sensibles Thema braucht schließlich ein entsprechendes Setting. Aber sie berücksichtigen bei ihrer Planung momentan schon, dass man das Ganze theoretisch auch auf Reisen schicken könnte im Anschluss. „Wenn man das alles nachhaltiger weiterlaufen lassen könnte, wäre das einfach großartig“, träumt Emely Egerland. Zunächst wird die Ausstellung aber wie gesagt in Kiel stattfinden: Im Pop-Up Pavillon am Alten Markt. Als grober Zeitrahmen ist der 25. November bis 13. Dezember 2020 vorgesehen. Eventuelle, kleinere Terminabweichungen werden rechtzeitig auf www.washattestduan.de bekanntgegeben.
Gloria Saggau
Hilfsangebote für gewaltbetroffene Frauen oder Menschen aus ihrem sozialen Umfeld:
Kostenloses Hilfetelefon – Gewalt gegen Frauen (in 17 Fremdsprachen):
08000 / 116 016
(Die Rufnummer des Hilfetelefons wird zu Ihrer eigenen Sicherheit nicht im Einzelverbindungsnachweis ausgewiesen.)
Anonyme Online-Beratung per E-Mail-, Sofort- oder Termin-Chat – kostenlos, anonym und vertraulich:
www.hilfetelefon.de
Beratung in Deutscher Gebärdensprache
Hilfetelefon Sexueller Missbrauch (kostenfrei und anonym):
0800 / 22 55 530
berta-Telefon (Beratung und telefonische Anlaufstelle, kostenfrei und anonym):
richtet sich an Betroffene organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt sowie an Angehörige
0800/ 30 50 750
Hilfsorganisationen in Ihrer Nähe finden:
www.frauen-gegen-gewalt.de/de/hilfe-beratung.html
www.hilfeportal-missbrauch.de/nc/adressen/hilfe-in-ihrer-naehe/kartensuche.html